„Wir machen sichtbar, was andere unsichtbar machen wollten“: 12 neue Stolpersteine verlegt
Am Dienstag wurden in Gera 12 neue Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an die Schicksale jüdischer Familien aus Gera, die aus der Stadt gerissen wurden.
Am Dienstag Vormittag wurden in Gera an drei Orten zwölf neue Stolpersteine verlegt. Stolpersteine erinnern an Menschen, die in der NS-Zeit (1933-1945) verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Häufig sind es jüdische Familien gewesen, wie auch bei den zwölf neuen Steinen in Gera. Verlegt wurden sie durch den Künstler Gunter Demnig, auf den diese Initiative zurückgeht. Die Stolpersteine sind so groß wie andere Pflastersteine, bestehen aus Beton und haben eine Messing-Tafel. Darauf stehen die Namen, Lebedaten und Schicksale in Kurzform der betroffenen Personen.
Familie Katz


Der erste Punkt war die Altenburger Straße 7. Dort wohnte die Familie Katz und hatte ein Textilwarengeschäft. Auf der Flucht vor der kaiserlich-russischen Armee kamen sie 1916 aus Sokal in Galizien nach Gera. Nach dem Tod seiner Frau verbrachte Familien-Patron Aron Selig Katz einige Monate in den USA, kehrte doch bald nach Europa zurück. Seine Söhne Herz Wolff und Michael lebten in der Zwischenzeit bei Tante und Onkel. Herz Wolff wurde Schriftsetzer und zog 1929 nach Berlin, wo er als Journalist arbeitete. Er kämpfte in der Fremdenlegion der französischen Armee gegen die Nazis und emigrierte 1940 in die USA. Dort wurde er Schriftsteller und schrieb auch den zweiteiligen Roman, der in Gera spielt. Sein Bruder Michael, zuvor Abteilungsleiter im Biermann-Kaufhaus, konnte mit seiner Frau 1938 nach Palästina fliehen und in der jüdischen Brigade der britischen Armee kämpfen. Aron Selig Katz jedoch, zusammen mit seiner zweiten Frau Gustl und dem gemeinsamen Sohn Saul, gelingt die Flucht nicht. Sie werden im Oktober 1938 bei der „Polenaktion“ nach Bentschen abgeschoben. Mutmaßlich sterben sie im Jahr 1942 bei Massakern.



Familie Dickstein
Weiter geht es im Steinweg mit fünf Stolpersteinen für die Familie Dickstein. Aus Triest stammend, wohnten sie seit den 1920ern Steinweg 12. Im Erdgeschoss hatte Anna Dickstein ihr Ladengeschäft „Anna Dickstein & Co. Wäsche, Wolle, Schuhwaren“. Ihr Mann Arrigo, durch eine Kriegsverletzung beinahe blind, war Vertreter der Generali-Versicherung. Die Kinder Melitta und Bruno wachsen mit guter Bildung auf. Melitta unterhält nach ihrem Malerei-Studium an der herzoglichen Kunstschule in Weimar sogar ein eigenes Atelier in der Agnesstraße 4. Ihr Mann Michael Schiffer, den sie 1921 geheiratet hat, betreibt das Kaufhaus Schiffer am Markt in Jena. Ihr Bruder Bruno lässt sich an der Amthor‘schen Handelsschule zum Kaufmann ausbilden. Im Jahr der faschistischen Machtübernahme gibt es Nachwuchs in der Familie Dickstein. Brunos Tochter Bat-Sheva wird geboren. 1937 gelingt allen die Flucht nach Palästina.



Geschwister Sandheim
Nur wenige Meter weiter, am Steinweg 5, werden die zwei Stolpersteine für die Schwestern Klara und Helene Sandheim verlegt. Sie waren zusammen mit einer weiteren Schwester der Nachwuchs des Kaufmanns Adolf Sandheim und seiner Frau Anna, die an dieser Adresse ab 1887 das Kaufhaus „Adolf Sandheim & Co“ betreiben. Nach Adolfs Tod 1916 wird es von den Gebrüdern Goldmann fortgeführt. Klara Sandheim zog mit ihrem Mann Mendel Meyer nach Berlin. 1942 wurde sie nach Riga deportiert und dort ermordet. Ihr Mann war zu dem Zeitpunkt schon tot. In Berlin ist bereits 2013 ein Stolperstein zu ihrem Gedenken verlegt worden. Ihre Schwester Helene hatte mehr Glück. Die Kunstmalerin ging mit ihrem Mann Bernhard Apelbaum nach Berlin und konnte von dort nach Brasilien fliehen, wo sie den Krieg überlebte. Helene hatte dem Stadtmuseum Gera zur Einweihung 1910 ein großformatiges Gemälde geschenkt. Auf dem Steinweg befand sich außerdem ein Geschäft von Adolfs Bruder Berthold.
„Gera ist eine Stadt mit Geschichte, aber auch der Haltung“





„Ich verstehe die Debatte, ob Erinnerungskultur noch notwendig ist, überhaupt nicht“, fragte sich Oberbürgermeister Kurt Dannenberg in seiner Rede und lobte die Arbeit von Demnig sowie des Interkulturellen Vereins Gera e. V., die die Verlegung initiiert haben. „Wir machen sichtbar, was andere unsichtbar machen wollten und vielleicht auch wieder wollen“. Dannenberg warnte vor dem wachsenden Extremismus und erklärte: „Gera ist eine Stadt mit Geschichte, aber auch der Haltung“.
Über 116.000 Stolpersteine wurden bisher in Europa verlegt, 124 davon allein in Gera. Noch ist nicht allen Opfern in Gera gedacht. Rund 500 jüdische Personen aus Gera waren betroffen. Die Projektgruppe Stolpersteine Gera mit Ansprechpartner Matthias Weibrecht sammelt dafür weiter Spenden, damit im nächsten Jahr weitere Steine folgen können.