Der erste Mai 2023 in Gera war ein sonniger Frühlingstag. Mehrere Versammlungen waren für diesen Tag angekündigt. Auf dem Markt gab es eine Kundgebung von Gewerkschaften, Parteien und Vereinen. Außerdem gab es zwei Demonstrationen. Die Demo “Kampftag der Patrioten / Gemeinsam für den Frieden”, organisiert von den rechtsextremen Kreisen der Montagsdemos, sowie die antikapitalistische/antifaschistische Demo "Kämpfe verbinden - Kapitalismus überwinden" welche von der Antifaschistischen Aktion Gera (AAG) beworben wurde. Zur Absicherung des Tages hatte die Polizei Gera Unterstützung durch die Bundespolizei und die Bereitschaftspolizei Thüringen. Insgesamt waren rund 340 Beamt*innen im Einsatz. Ob auch zivile Polizeikräfte eingesetzt waren, wollte die Polizei nicht sagen.
Die Antifa-Demo stand im Fokus des Geschehens. Auf Social Media und auf Stickern wurde sie mit "Willst du mit mir Randale machen?" beworben. Dieses Motto hat einen historischen Bezug. Es erinnert an die revolutionären, teils gewaltvollen Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung, die noch heute bestehende Erfolge wie den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, sowie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erreicht haben. 1886 kam es in Chicago am 1. Mai zum “Haymarket Riot“. Ab 1980 sah man in Europa den Tag als "Kampftag der Arbeiterbewegung" an, der seit 1919 in Deutschland Feiertag ist. Der Spruch sei auch im Kooperationsgespräch vorher Thema gewesen, erzählte die Anmelderin im Gespräch mit Gerda. Für die Behörden kam es als Aufruf zur Unruhe rüber, aber es war nur als Lockspruch für Social Media gedacht. Letztendlich ging er doch durch.
Der Spruch war anscheinend erfolgreich. Über 500 Menschen kamen. Für eine antifaschistische Demo in Gera eine große Zahl. 13 Uhr sollte es vom Hauptbahnhof losgehen, aber durch eine defektbedingte Zugverspätung, ging es erst 14 Uhr los.
Dann nahm das Drama seinen Lauf. Die Demo zog los und kam keine hundert Meter weit. Sie sollten nun nicht durch die Unterführung der Ernst-Toller-Straße laufen, sondern daneben durch die Unterführung der Straßenbahn. Aber das wollte man nicht. Denn ein halbes Jahr zuvor wurde die Antifa-Demo genau dort festgehalten. Dort standen auch schon zahlreiche behelmte Polizist*innen bereit.
Es hieß, dass man einen Zusammenstoß mit der rechten Demo verhindern will. Die sollte aber erst 15 Uhr starten. Während die Anmelder*innen, parlamentarische Beobachter*innen, Polizei und Ordnungsamt diskutierten, kochte in der Demo langsam die Stimmung hoch. Ein Böller knallte und ein Rauchtopf wurde gezündet. Das Ordnungsamt war dann plötzlich weg, aber die Situation nicht geklärt.


Irgendwann kam der Vorschlag auf, dass man doch in die andere Richtung, die Friedrich-Engels-Straße hoch, gehen könnte. Das wurde dann auch gemacht. Begleitet von behelmter Polizei ging es über Zabelstraße, Humboldt-Straße und Sorge Richtung Kultur- und Kongresszentrum (KuK). Weitere Rauchtöpfe wurden gezündet. Pyrotechnik war nicht angemeldet, aber laut Anmelderin hatte die Polizei ihr dazu keine Durchsagen gemacht.


In der engen, abschüssigen Bachgasse, zwischen KuK und Otto-Dix-Galerie, wurde die Demo erneut gestoppt. Direkt neben einem Café. Um die Ecke, auf dem KuK-Vorplatz sollte die Endkundgebung der Rechten stattfinden. Die waren aber noch lange nicht da.
Unten war eine Polizeikette, oben war eine Polizeikette. Kein Weiterkommen. Dabei hieß es, dass die Demo umdrehen könnte und auf der anderen Seite der Otto-Dix-Galerie langlaufen könnte.
Hinter der Polizeikette unten wurde eine Spontan-Kundgebung angemeldet. Zu der durfte die Demo aber nicht. Zu viele Leute hieß es. Eine Dreiviertelstunde stand die Demo. Es wurde viel hin und her diskutiert. Nichts ging voran. Die Stimmung kochte weiter hoch.
15:46 kippte die Stimmung. Ein Rauchtopf wurde gezündet und rollte unter dem Banner durch, Richtung Polizei. Es gab einen Impuls und die vorderen Reihen der Demo rückten nach vorne los. Der Rest dachte, es geht weiter und folgte. Mit ihren Körpern drückten sie sich gegen die Polizeikette und schoben sie rund zwanzig Meter weit. Die Polizei reagierte schnell. Durch den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray wurde die Meute gestoppt. Für ein paar Minuten war es ein großes Durcheinander. Menschen stolperten und andere fielen über sie drüber. Mehrere Personen wurden verletzt, viele mit Pfefferspray in den Augen. Einige erlitten Panikattacken. Es gab auch mindestens eine Platzwunde. Auch ein Polizeibeamter wurde verletzt.
Es dauerte ein wenig, dann kesselte die Polizei den vorderen Teil der Demo ein. Der Durchbruchsversuch wurde als “schwerer Landfriedensbruch” gewertet und die Identitäten sollten festgestellt werden. “Die Trennung erfolgte in friedliche und unfriedliche Teilnehmer der Versammlung”, erklärt die Polizei den Vorgang. Doch für einige Teilnehmende wirkte es etwas willkürlich, da nicht nur der vordere Teil, sondern die ungefähre Hälfte eingekesselt wurde. Am hintersten Punkt, den die Bebauung der Bachgasse zuließ, rückte die Polizei mit Beamt*innen ein, um die Demo zu trennen. Auch wurde versucht, mithilfe von Gewalt weitere Banner einzukassieren.



Die Maßnahme zum Zweck der Identitätsfeststellung dauerte knapp über fünf Stunden. Insgesamt 252 Personen waren betroffen. Bei den ID-Maßnahmen fand die Polizei auch Dinge, die nicht auf eine Demo gehören. “Unter anderem wurden Quarzhandschuhe, Pfefferspray, Taschenmesser, Pyrotechnik aufgefunden. Die Liste ist nicht abschließend”, erklärt die Polizei. Vereinzelt kam es zur Anwendung von Schmerzgriffen, da sich zu Beginn einige sträubten, Folge zu leisten. Gegenüber Gerda gaben Teilnehmer*innen an, dass man nicht gedacht hätte, dass wirklich alle kontrolliert werden und man eine Weile hoffte, dass es später aufgelöst wird.
Die parlamentarischen Beobachter*innen (von Linke, SPD und Grüne) versorgten die Gekesselten mit Wasser und Pizzen. Mit Einbruch der Dunkelheit fing es an zu regnen und es wurde kühler. Erst als über den Lautsprecherwagen Musik abgespielt wurde und die Menschen anfingen zu tanzen, entspannte sich die Stimmung. Auch bei den Beamt*innen. Kurz nach 21 Uhr kam die letzte Person aus der Maßnahme raus. Die übrigen Teilnehmer*innen zogen in einer Spontandemo zum Bahnhof, wo der Tag ein Ende fand.





Razzien gegen Beteiligte
Zu Ende ist die Geschichte noch lange nicht. Von den politischen und aktivistischen Linken kam massive Kritik an dem Polizeieinsatz. Der Einsatz wurde sogar in den Innen- und Kommunalausschuss des Thüringer Landtags eingebracht. Und im Herbst kam noch einmal eine Antwort vom Staat. Am frühen Morgen des 8. November wurden auf Geheiß der Staatsanwaltschaft Gera bundesweit Objekte durchsucht. 36 Personen aus Thüringen, Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen waren betroffen. “Den Beschuldigten wird Landfriedensbruch, teilweise Verstoß gegen das Vermummungsverbot und Verstoß gegen das Uniformverbot vorgeworfen”, erklärt die Staatsanwaltschaft Gera. “Dies erfolgte auf Grund (sic!) der Bewertung der festgestellten strafrechtlich relevanten Sachverhalte.” Verhaftungen gab es keine. “Ziel der Durchsuchungen war, das Auffinden von Beweismitteln hinsichtlich des individuellen Tatbeitrags und ggf. der Vernetzung im Zusammenhang mit der Tatbegehung.” Eine mögliche Absprache zum gemeinsamen Landfriedensbruch ist Gegenstand der Ermittlungen.
Wer ist dieser schwarze Block?
Die häufigste Assoziation mit dem schwarzen Block ist Krawall und Chaos. Das liegt auch an der weitläufigen Berichterstattung, die es meist nur nach Ausschreitungen gibt. Die Verwendung von Vermummung und gesamtheitlicher schwarzer Kleidung soll Identifizierung erschweren, Kollektivität fördern und ist teilweise schon gang und gäbe in der linken Szene.
Allerdings gibt es Unterschiede zwischen Großstadt und der Provinz, zu der man auch Gera zählen könnte. Hier geht es vor allem um den Selbstschutz. In einer kleineren Stadt wird man schneller erkannt. Zu groß seien die Gefahren eines Nazi-Angriffs. Das erzählten Aktivist*innen aus dem Kreise der AAG gegenüber Gerda. Für sie sind es Menschen, die sich für etwas einsetzen wollen, aber zum Eigenschutz anonym bleiben wollen. “Die, die sich trauen, als Erstes zu laufen, die bekommen auch am meisten ab.” Allerdings wird auch auf den “bürgerlichen” Teil verwiesen, der im hinteren Part von Demos zu finden ist. “Wer sich traut, Gesicht zu zeigen, zeigt auch Mut und Stärke, gerade in einer Stadt wie Gera.”
“Scheiße” - Reflexion & Blick auf 2024
Nach der Demo gab es auch innerhalb der linken Szene und den Orga-Strukturen Reflexion. “Ich hab den Rauchtopf durchrollen sehen und dachte mir nur ‘Scheiße‘“, erinnert sich die Anmelderin, die in dieser Situation machtlos war. “Ich glaube, es waren viele Faktoren”.
Die Situation in der Bachgasse war sehr unübersichtlich, begünstigt auch durch die Abschüssigkeit und Enge der Gasse. So hatte sie auch ein paar Mal ihren Co-Anmelder gesucht. In dieser Lage kursierten auch unterschiedliche Informationen, wie es mit der Demo weitergeht.
Sie will die Polizist*innen nicht in die alleinige Schuld nehmen, aber wehrt Vorwürfe gegenüber der Orga ab. Sie hat Anweisungen zum Ablegen der Vermummung weitergegeben und war kompromissbereit. “Wir haben versucht, friedlich zu demonstrieren, auch wenn der Aufruf etwas krass klang”. Ein Durchbruchsversuch war nicht geplant. “Sowas nimmt man ja nicht in Kauf”, verdeutlicht sie im Blick auf die Verletzten und Durchsuchten. Vor allem das Warten und das ganze Hin und Her hat die Stimmung hochgekocht. Von der Polizei gab es keine Angabe zur internen Einsatzauswertung und die Stadt Gera antwortete: “Die Arbeit des Ordnungsamtes wurde als behördlich korrekt angesehen.”.
Die Redebeiträge, die 2023 nicht gehalten werden konnten, sollen in diesem Jahr gehalten werden. Es soll dieses Mal wirklich um die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse gehen, mit möglichst vielen Perspektiven. Nachdem die seitdem vergangenen Antifa-Demos in Gera ohne große Zwischenfälle abgelaufen sind, stehen die Zeichen gut, dass es in diesem Jahr friedlicher abläuft. Hinzu kommt, dass nach derzeitigem Wissensstand keine rechtsextreme Veranstaltung angemeldet ist, was die Lage 2023 auch angespannt hat.






Rund um den ersten Mai ‘23 haben sich einige Behauptungen oder Falschinfos gestreut:
Die Anmelderin war Elisabeth Kaiser (MdB SPD): Die AfD stellte, eine mittlerweile eingestellte, Strafanzeige gegen die Politikerin, weil man sie (aufgrund ihrer Anwesenheit) als Anmelderin vermutete und ihr vorwarf “den Bürgerkrieg anzettelt” zu haben. Gerda kennt die Identität der Anmelderin und kann bestätigen, dass es nicht Frau Kaiser ist. “Ich bin nicht Elisabeth Kaiser”, bestätigte sie selbst auch noch einmal.Die Antifa-Demo war ein Gegenprotest: In einigen Medienberichten wird die Antifa-Demo als Gegenprotest zur rechten Demo bezeichnet. Auf Nachfrage bestätigte die AAG, dass das nicht als Gegenprotest, sondern eher als normale 1. Mai Demo gedacht war.Es wurden Steine und Glasflaschen geworfen: Die Behauptung es erfolgte ein Angriff mit "Stangen, Steinen, Flaschen und Bengalos" tauchte auch auf. Außer dem einen Rauchtopf wurden, so lässt es sich aus dem vorhandenen Bildmaterial erkennen, nur die eigenen Körper verwendet. Inwiefern Fahnenstangen/-stäbe dabei zum Einsatz kamen, lässt sich nicht erkennen. In ihrer Pressemitteilung schreibt die Polizei auch von “mehreren massiven körperlichen Angriffen gegen vor Ort befindliche Polizeibeamte”.Bei den Razzien wurde eine scharfe Waffe gefunden: Im Rahmen der Durchsuchungen fand die Polizei bei einer beschuldigten Person in Schwarzenberg (Erzgebirge) eine Schusswaffe mit Patronen. Ob diese bei der Demo eingesetzt wurde, werde derzeit noch geprüft. Angesicht der häufig zu beobachtenden Personenkontrollen im Rahmen von (linken) Demos ist das Mitnehmen eines solchen Gegenstands äußerst unwahrscheinlich. Das LKA Sachsen leitete separate Ermittlungen (Verdacht des Verstoßes gegen das Waffengesetz) ein.





