Was ist los in Bieblach-Ost?
Ein erschreckendes Video von Kinder- und Jugendgewalt aus Bieblach-Ost hat im Juni für Aufregung gesorgt. Gerda hat mit Jugendlichen, Anwohner*innen & Sozialarbeiter*innen gesprochen.
Was ist los in Bieblach-Ost? Nichts, werden da sicherlich viele denken. Nichts ist los in Bieblach-Ost, denn der Stadtteil ist tot und vergessen. Tatsächlich haben uns mehrere Menschen berichtet, dass die Polizei vor dem Gewaltvideo Bieblach im Stadtteilgremium als „super ruhig geworden“ bezeichnet hat. In einer Anfrage bestätigt die LPI Gera: „Bieblach wird durch die Polizei Gera nicht als Kriminalitätshotspot bewertet.“
„Bieblach wird durch die Polizei Gera nicht als Kriminalitätshotspot bewertet.“
Aber kommt diese Gewalttat, die im Juni für Aufregung sorgte, aus dem Nichts? Oder ist doch viel los in Bieblach-Ost? Gerda hat sich auf den Weg gemacht, mit Menschen in Bieblach-Ost gesprochen und Beobachtungen angestellt. Vorab: Das Bild von Bieblach ist nicht vollständig. Das wäre auch nicht möglich. Immerhin leben dort 5.512 Menschen (Stand Juni 2024). Auch waren potenziell relevante und interessante Gesprächspartner*innen nicht erreichbar, weil sie im Urlaub waren oder zuvor von der Skandal-suchenden Presse verschreckt worden sind. Dennoch konnten wir bei unseren Besuchen in Bieblach-Ost zahlreiche Gespräche führen. Und die meisten Aussagen und Beobachtungen decken sich, sodass wir dennoch davon ausgehen, ein umfassendes Bild zu haben. Die meisten Personen bleiben hier aber anonym, um deren Job und Sicherheit zu waren.
Schon zu Beginn der Recherche zeigt sich: Es ist keine organisierte Bande, die das Viertel terrorisiert, sondern es gab eine Vorgeschichte, die nicht im Video zu sehen ist. Mehrere Personen berichten, dass der Täter selbst schon negativ aufgefallen ist. „(Geschädigter) hat sehr oft die große Fresse“, hören wir von Jugendlichen, die nicht an der Tat beteiligt waren, sowohl als auch von Sozialarbeiter*innen. „Der war so frech. Er hat von allen die Mütter beleidigt und hat provoziert“, erzählte uns ein Jugendlicher. Das rechtfertigt natürlich nicht die Gewalt gegen ihn. Aber es sind Hinweise auf die Dynamiken zwischen den Jugendlichen.
Das Problem mit Freundesgruppen/Jugendcliquen, die irgendwo anecken wollen und sich in der Gruppe stark fühlen, ist nicht neu. Das gab es schon immer. Und das wurde uns auch von der Polizei bestätigt: „Das Phänomen ‚sich bewegender Jugendgruppen‘ ist größeren Städten immanent1. Speziell Jugendgruppen fallen durch deviantes2 Verhalten auf, welches jedoch nicht zwingend delinquent3 sein muss. In jedem Stadtteil gibt es Plätze / Räume, auf/in welchen sich Jugendgruppen treffen. Dabei kann es vereinzelt auch zu Straftaten kommen.“ Und es ist auch „kein rein migrantisches Problem“, wie uns ein Sozialarbeiter verdeutlicht.
„kein rein migrantisches Problem“
„Was zunimmt, ist die Affinität zu Waffen“, erzählt uns ein Sozialarbeiter. Mit Waffen meint er Pfefferspray, Messer und Schlagstöcke. Auch sei zu beobachten, dass die Jugendlichen seit den letzten zwei Jahren nach Corona eine extrem kurze Zündschnur haben. Oft geht es bei Streits um Banalitäten. Und der Sozialarbeiter stellt fest: „Die haben alle ein krasses Problem mit Männlichkeit“.
Warum neigen Menschen zu Gewalt?
Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Wüssten wir eine möglichst umfassende Antwort, hätten wir vermutlich auch eine Lösung dafür. Es muss auch immer zwischen physischer und psychischer Gewalt unterschieden werden. Beides geht zumeist miteinander einher. So auch in dem konkreten Fall. Das Opfer wird geschlagen und beleidigt.
Beziehen wir uns auf das Thema Sozialisierung dann könnten wir die Hypothese aufstellen, dass hier verschiedene Aspekte zur Gewalt führten wie: unzureichendes Integrationsbemühen und -angebot von Kommunen, Land und Bund; Armut; beengte Wohnformen; Klassendruck4; beengte Perspektiven; unzureichende konkrete Angebote zum Messen miteinander unter Erkennen und Wahren von Grenzen des jeweils anderen; Werte vermittelnde Korrektive und viele weitere. Einige der Aspekte erkennt man in den Gesprächen wieder. Ein Sozialarbeiter sieht für die Kinder zu wenig Beschäftigung: „Da braucht’s mehr“. Vor allem Sportangebote fände er sinnvoll. Dort könnten sich die Kinder in friedlichem Rahmen messen.
Das Thema Grenzen setzen beschäftigt die Sozialarbeiter*innen. Einer berichtet von „total wilden Dynamiken“ unter den Jugendlichen. Sie haben keine Erfahrung mit Grenzen, wollen sich behaupten und gucken, wo sie stehen. Ein anderer Sozialarbeiter kennt einen sehr wichtigen Aspekt bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Er sieht, dass ausländische Kinder ihre Eltern oft an der Nase herumführen. Denn wegen der Sprachprobleme übernehmen oft die Kinder deren Aufgaben, wie zum Beispiel Banküberweisungen. Das macht Kinder sehr selbstbewusst, was sich im Alltagsverhalten widerspiegelt.
Übrigens ist (jugendliche) Gewalt nicht neu im Viertel. Erst im Januar dieses Jahres jährte sich der Todestag von Oleg V. zum 20. Mal. Der 27-jährige russische Spätaussiedler wurde 2004 nach einem gemeinsamen Trinkgelage von mehreren Jugendlichen (14- bis 19 Jahre) aus dem rechtsextremen Spektrum zu Tode geprügelt.
Was sagt die Polizei zu der Tat?
Die Polizei wurde auf die Tat, die am 11.06.2024 um ca. 18:15 Uhr stattfand, erst über einen öffentlichen Beitrag in den sozialen Medien aufmerksam: „Bis zu diesem Zeitpunkt lag uns keine Anzeige vor.“ Ermittelt wird zu Körperverletzungsdelikten, einem Raubdelikt, Nötigungen, Bedrohungen und Beleidigungen sowie unterlassener Hilfeleistung und Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Mehr als 20 Tatverdächtige wurden ermittelt, aber sind aufgrund ihres Alters vor dem Strafgesetz überwiegend unmündig oder fallen in Teilen unter das Jugendstrafrecht. Hier kommt die Jugendstation der Justiz in Gera ins Spiel. Dort sind in einem Dienstgebäude Jugendstaatsanwälte der Staatsanwaltschaft Gera, die für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende zuständigen Polizeibeamten des Ermittlungsdienstes der Landespolizeiinspektion Gera und die Jugendgerichtshilfe der Stadt Gera sowie die Jugendgerichtshilfe des Landkreises Greiz untergebracht, um die behördenübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. „Die Jugendstation Gera verfolgt insbesondere das Ziel der Steigerung der Effektivität bei der Bekämpfung von Jugenddelinquenz“, erklärt uns ein Polizeisprecher und meint damit die: „Verbesserung des Regel— und Normenverständnisses junger Delinquenten durch angemessene Ermittlungen und erzieherische Maßnahmen.“ Außerdem werden in diesem Fall Jugendamt und Ausländerbehörde über die Ermittlungsvorgänge informiert und müssen in eigener Zuständigkeit Maßnahmen einleiten. Bandenkriminalität sieht die Polizei in diesem Fall aber nicht: „Es handelt sich bei dem Personenkreis größtenteils um Kinder. Weder das Auftreten im Allgemeinen, noch der derzeitige Stand der Ermittlungen lassen auf eine permanente Gewaltoffenheit oder auf eine bandenmäßige Struktur (nach dem Strafgesetz) schließen.“
Kann man (junge) Gewalttäter resozialisieren und wie geht es der Jugend eigentlich?
Bevor wir von Resozialisierungsnotwendigkeit sprechen, braucht es eine gewisse kritische Betrachtung, was das überhaupt ist und wer genau das braucht. Es wird ja auch nur unter bestimmten Bedingungen von Intensivtäter*innen gesprochen, da gibt es dann ja schon auch Programme und intensivierte Angebote, wie dafür eigens geschaffene Wohnformen. Eigentlich geht diese Arbeit schon in der Prävention los. Und diese sollte integrierter Bestandteil bereits erwähnter notwendiger Angebote sein.
Die Tat und die Jugendgewalt „muss interdisziplinär5 aufgearbeitet werden und nicht von irgendwelchen Internet-Rambos“, findet ein Sozialarbeiter. Über die extremen und menschenfeindlichen Forderungen einiger dieser „Internet-Rambos“ hatten wir im Newsletter Nummer 08 berichtet. Tatsächlich ging es sogar so weit, dass Kinder verfolgt und beleidigt wurden, weil sie für Personen aus dem Video gehalten wurden. „Mit der Berichterstattung hat man jetzt alle Kinder aus Bieblach-Ost kollektiv zu nicht resozialisierbaren Straftätern gemacht“, beschwert sich ein Sozialarbeiter über die Skandal-suchende Presse, die teilweise die Jugendclubs belagert haben. Das habe die Kinder und Jugendlichen total verunsichert. „Viele reden schlecht über uns“, vermeldet uns ein Jugendlicher. Im Gespräch mit Gerda verurteilten die Jugendlichen die Tat: „Das geht überhaupt nicht, was da passiert ist“, meinte einer. Eine andere fand es „einfach nur peinlich“.
„Mit der Berichterstattung hat man jetzt alle Kinder aus Bieblach-Ost kollektiv zu nicht resozialisierbaren Straftätern gemacht“
Generell hat die Jugend aktuell keine leichte Zeit. Ständige Konfrontation mit Krisen, Perspektivlosigkeit und eine Dauerbeschallung durch Medien. Einen vermeintlichen Ausweg bieten dabei politische Ideologien. Ein Sozialarbeiter sieht bei den Jugendlichen teilweise auch „krasse Radikalisierungsprozesse“. Er sieht drei politisch-ideologische Strömungen, denen sich manche Jugendliche zuwenden und die alle im Antisemitismus vereint sind. Zum einen ist das der Islamismus, der besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund abholt und seit dem 7. Oktober 2023 Aufwind hat. Außerdem der Rechtsextremismus, der lange Tradition hat und sich besonders durch Rassismus äußert. Und als Drittes der Linksextremismus, in dem Falle autoritär kommunistisch. Während der Linksextremismus in Gera kaum eine Rolle spielt, kann man die anderen beiden Strömungen im Viertel feststellen. So wohnte einer der beiden mutmaßlichen IS-Anhänger, die im März in Gera festgenommen wurden, in Bieblach-Ost. Und auch rechtsextreme Symbolik prägt das Bild. Überall findet man rechte Sticker und Graffiti, darunter mehrere Hakenkreuze. Ein Jugendlicher berichtet von „Stress, oft mit Nazis“. Ein anderer verdeutlicht: „Erwachsene Leute, die kommen und sagen ’Scheiß Ausländer’, obwohl sie gar nicht wissen, ob wir Ausländer sind.“ Auch einer der Sozialarbeiter berichtet, dass Kinder, mit denen er zu tun hat, von ausländerfeindlichen Vorfällen berichten. Er hat auch von Lehrer*innen gehört, dass eine Radikalisierung über TikTok stattfindet.
Allerdings scheint sich diese Radikalisierung noch nicht groß auf Straftaten umzuschlagen. „Mit Fokus auf den Bereich der Jugendkriminalität sind annähernd keine entsprechenden Tendenzen erkennbar“, antwortet uns die LPI Gera. „In den hier thematisierten Verfahren spielen nach gegenwärtigem Ermittlungsstand keine politischen oder religiösen Motive eine Rolle.“
„In den hier thematisierten Verfahren spielen nach gegenwärtigem Ermittlungsstand keine politischen oder religiösen Motive eine Rolle.“
Im Gespräch erklären uns Jugendliche, sie haben das Gefühl, es schwer zu haben. Das hat auch mit der Schule zu tun. Ein Jugendlicher berichtet von „sehr, sehr viel Ausfall“, andere von fehlender Vorbereitung aufs Leben. „Die könnten uns mal beibringen, wie man mit Geld umgeht.“ Viele seien schulabgängig, erzählt ein Sozialarbeiter und erklärt, dass die Schulen keine Kapazitäten haben. Und Eltern haben oft Desinteresse oder sind entweder überfordert oder überzogen.
Sozialarbeiter*innen berichten auch, dass viele Jugendliche rauchen oder Vapen6. Teilweise schon in der 5.-6. Klasse. „Zum Stressabbau“, erklärt uns eine Jugendliche. Es sei „wie Luftkaugummi“. Drogen spielen eine kleine Rolle, sollen aber laut Sozialarbeiter*innen mehr werden, je älter die Jugendlichen sind. Menschen, die offenbar Drogen konsumieren, kann man auch in der Öffentlichkeit in Bieblach-Ost beobachten. Sie sind aber vor allem erwachsen und entsprechen einem europäischen Phänotyp.
Zur generellen Situation im Viertel
Um die jetzige Situation von Bieblach-Ost zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte notwendig. Der symbolische Spatenstich für Bieblach-Ost war 1986. Die damalige DDR-Bezirksstadt Gera boomte zu der Zeit.
Bieblach-Ost wurde gebaut, um mehr Wohnraum zu schaffen. Bis 1990 sollten hier 3.500 Wohnungen entstehen. Aus den maroden und unsanierten Altbauwohnungen in der Innenstadt sind die Menschen gerne in die neuen modernen Plattenbauten gezogen. Dann kam die Wende und mit ihr eine große Arbeitslosigkeit. Viele Ostdeutsche zogen auf der Suche nach einer neuen Arbeit und neuem Glück in den Westen. Und Bieblach-Ost, dessen Infrastruktur im Quartier noch nicht abgeschlossen war, stand auf einmal mit massivem Leerstand da. Mit den Menschen verschwanden auch Läden. In den 2000er Jahren wurden die ersten Blöcke wieder abgerissen. Zwar gab es immer wieder Initiativen und Förderung, aber so richtig gewinnt der Stadtteil nie an Attraktivität. Dazu kommt, dass noch einige Wohnblöcke, besonders im unteren Teil von Bieblach-Ost unsaniert sind und aufgrund der fehlenden Nachfrage eine niedrige Miete haben. Das bringt die Entwicklung mit sich, dass eben diese Wohnungen vom Sozialamt/Land Thüringen an Flüchtlinge vergeben werden, die aus der Gemeinschaftsunterkunft ausziehen wollen. Schon in den 1990ern wurde Wohnraum in Bieblach-Ost gezielt an Spätaussiedler*innen7 aus Rumänien und Russland vergeben. Das führt, gewollt oder ungewollt, zu einer Konzentrierung und hindert die Integration, weil alle unter sich bleiben.
Wie kann man den Menschen helfen?
Schauen wir zuerst auf die Jugendlichen. Von einem Jugendclub heißt es: „Wir als Ort bieten einen Erfahrungsraum.“ Den Jugendlichen wird eine Perspektive gegeben. Die Regeln sind klar abgesteckt und in die Straffindung werden sie selbst mit einbezogen. Ein Sozialarbeiter fordert auch mehr Akzeptanz der Älteren: „Es bräuchte auch eine Stadtgesellschaft, die sich erinnert, dass sie auch einmal jung waren“. Jugendliche wollen gerne irgendwo anecken. „Am Ende schreien sie alle nur um Aufmerksamkeit“, benennt es ein Sozialarbeiter. Viele der Jugendlichen sehen keine Zukunft in Gera. Es fehlen ihnen Läden, Freizeitangebote und ein Freibad. Jetzt ist die Diskussion um ein Freibad in Gera schon etwas älter und komplizierter. Aber andere Angebote zu schaffen, wäre auch ein Weg.
Menschen müssen und wollen gesehen werden. Konkret benötigt es mehr Sicht auf den Stadtteil Bieblach und die Menschen, die da wohnen. Ansprache kann durch Straßensozialarbeit, Stadtteil-Cafés, möglichst konsumbefreite Räume mit Aufenthaltscharakter und z. B. sportlichem und kulturellem Angebot auch unter Beachtung transkultureller Aspekte erfolgen. Des Weiteren benötigt es ausreichend Bildungsangebote, Austauschoptionen und Angebote, die alle Altersklassen einschließen. Das fordern auch viele Gesprächspartner*innen. So fehle es auch an Räumen für ältere Menschen gegen Verbitterung. Die positiven Momente fehlen, wie wir beobachten konnten. Als Gerda mit einer Gruppe Seniorinnen zusammensaß und über die Situation im Quartier redete, hielt sich eine der Damen irgendwann die Ohren zu. „Immer nur die negativen Sachen. Ich will das jetzt nicht am Kaffeetisch hören“. Denn zu der Wahrheit gehört auch, dass viele sehr gerne dort wohnen und es eigentlich ein schönes und ruhiges Viertel ist. „Ich wohne gerne in meiner Platte“, erzählt uns eine Seniorin, die seit den 1980ern in Bieblach wohnt. Sie und andere wünschen sich mehr Sauberkeit, besonders im Kaufland. Ihnen kommt es vor, als wäre diese letzte größere Einkaufsmöglichkeit auch schon aufgegeben. So erklären Sie sich auch den Frust bei anderen Alteingesessenen, dass ihr Viertel weiter runtergeht. Auch fehle es an Begegnungsorten, wie einer Gaststätte.
„Ich wohne gerne in meiner Platte“
Viele finden das Viertel an sich nicht schlecht, es ist eher der Ruf. Ein Anwohner, der nahe dem „Tatort“ wohnt, berichtet, dass er sehr gerne dort wohnt. „Dort ist es eigentlich immer ruhig“, meint er. Nur am Wochenende wird es manchmal lauter, wenn Leute feiern. Ab und zu hört man dabei auch rechte Parolen. Ansonsten seien alle dort mega nett: „von Deutschen bis Flüchtlingen“. Er fühlt sich dort wohl: „Ich kann mir vorstellen, auch in fünf Jahren noch in Bieblach-Ost zu leben“.
Was macht Perspektivlosigkeit/Leben in Lage Bieblach-Ost mit Menschen?
Perspektivlosigkeit führt vermutlich zu kollektivem Frust, Hoffnungslosigkeit, die Kommunikation untereinander wird rauer und richtet sich mehr um die Fragen nach purem Überleben. Da, wo es um Erhalt minimaler Ressourcen geht, wird vielleicht der Raum für eine Überprüfung der eigenen Motive für Verhalten deutlich enger.
Wie kann es mit Bieblach-Ost weitergehen?
Unabhängig von unserer Recherche hat sich einiges getan. Die Jugendstation Gera konnte die involvierten Personen deutscher und ausländischer Herkunft ermitteln und hat ihnen Pflichtarbeitsstunden auferlegt. Auch politisch tut sich etwas. Die beiden Stadträte Andreas Kinder (CDU) und Daniel Reinhardt (Linke) haben ihre alten Bemühungen wieder aufgenommen, einen Ortsteilrat in Bieblach zu gründen. Im Juli haben sie angefangen, Unterschriften für einen Beschlussantrag zur Gründung eines Ortsteils an den Stadtrat zu sammeln. „Ich hoffe, dass die Stadträte die Not des Ortsteils und der Menschen erkennen“, erklärt Kinder gegenüber Gerda. „Ich bin in Bieblach aufgewachsen und sehe seit Jahren, wie dieser Ortsteil abgehangen wird.“ Insgesamt 300 Unterschriften sind für den Antrag nötig, egal ob man im Viertel wohnt oder nicht. Man muss nur mindestens 14 Jahre alt sein und seit mehr als drei Monaten in Gera leben.
Bisher gibt es ein Stadtteilgremium, in dem unter anderem die Stadtteilmanagerin, Sozialarbeiter*innen sowie zwei Kontaktbereichsbeamte der Polizei sich austauschen. Doch innerhalb der Stadtpolitik fehlt die Wahrnehmung. Ortsteilrat wäre gut für mehr Sichtbarkeit. Aber damit ist es nicht getan.
Politiker*innen sollten sich viel öfter im Viertel zeigen und zuhören, vor allem wenn kein Wahlkampf ist. Mit ernsthaftem Interesse an Veränderung ließe sich hier viel erreichen. Viele haben sich zu dem Video und der Tat empört geäußert. Aber welche Politiker*innen waren vor Ort und hatten konstruktive Ansätze oder ein ernsthaftes Interesse, etwas zu bessern?
Einige Sozialarbeiter*innen beklagen: Projekte sind oft nur für einen kurzen Zeitraum finanziert. „Es ist dann oft unklar, wie sie weitergehen“, erklärt eine Sozialarbeiterin. Mit kontinuierlicher Finanzierung können Projekte langfristig entwickelt werden. Viele Aktive im Viertel haben das Gefühl, nicht wirksam zu sein. Einige davon leben selbst am Existenzminimum. „Die Guten gehen, wenn sie können“, meint die Sozialarbeiterin.
Bieblach-Ost hat, wie Gera generell, sehr viel Potenzial. Allein das viele Grün im Viertel ist etwas, was zum Beispiel die Innenstadt nicht bieten kann. Das ließe sich als Pluspunkt hervorheben, um das Image des Viertels zu bessern. Einige Initiativen setzen da schon an. Es gibt den „interkulturellen Garten/Stadtteilgarten“, den die Diakonie mit Flüchtlingen betreibt. Auch an anderen Stellen sieht man zusätzliche Bepflanzung aus Eigeninitiative.
Was viele stört, ist der Müll, der in Teilen des Viertels zu sehen ist. Ein Sozialarbeiter erklärt: „Es gibt Flüchtlinge, die keine Ordnung halten“. Oft sind es Kinder. Es lässt sich beobachten, dass sich einige aus Mangel an Angeboten an Sperrmüll oder leerstehenden Häusern bedienen. Er redet dann mit den Familien, aber meint auch, dass es zu wenig Mülleimer gibt. An anderen Stellen sorgen Tauben für viel Dreck sowie Frust bei den Menschen, die sich um Sauberkeit kümmern.
Was auch fehlt, ist die Infrastruktur. Es gibt kaum Läden, wenig Praxen und wenig Begegnungsorte. Das Kaufland als Standort zu sichern und das Areal zu füllen, wäre ein wichtiger Schritt. Seit einiger Zeit macht das Gerücht der Schließung seine Runde. Die Unsicherheit, wo man denn einkaufen könnte, wenn das Kaufland zu ist, macht besonders den Senior*innen zu schaffen. Der Leerstand und die fehlenden Strukturen ließen sich auch nutzen, um möglicherweise Modellprojekte zu platzieren. Auch die Verkehrsanbindung ist ausbaufähig. Dass Bieblach-Ost so weit abgelegen von der Innenstadt liegt, lässt sich nicht ändern. Aber warum gibt es, abgesehen von Fußwegen, keine Verbindung zum Bieblacher Hang?
„Es bräuchte Angebote für gemeinsame Aktivitäten“, findet eine Sozialarbeiterin. Während einige Senior*innen differenziert darauf schauen, wer für Ärger sorgt, haben andere Angst vor den Flüchtlingen. Generell scheinen sich auch eher migrantische Personen draußen aufzuhalten und die „Deutschen“ sich in ihren Wohnungen zu verstecken. Wie wäre es denn, wenn einsame Senior*innen bei gemeinsamen Kaffeerunden Flüchtlingen Deutsch beibringen?
Wichtig wäre auch, die Sozialarbeit weiter zu fördern und auszubauen. Und in den Schulen braucht es mehr Lehrer*innen, damit dort den jungen Menschen unserer Stadt ein guter Start ins Leben und eine Perspektive gegeben wird.
Und für die Bevölkerung ist es wichtig, nicht zu pauschalisieren. „Man sollte Menschen auch eine zweite Chance geben“, findet ein Sozialarbeiter. Er wünscht sich auch mehr Bewusstsein, dass es auch früher schon Schlägereien gab.
Die Polizei will mit Präsenz präventiv gegen weitere solche Vorfälle und andere Taten vorgehen. „Die Maßnahmen der LPI Gera im öffentlichen Raum umfassen motorisierte und Fußstreifen im täglichen Dienst, auch durch zugewiesene Unterstützungskräfte und speziell auch bei gemeinsamen Fußstreifen mit dem Ordnungsamt. Wir beauftragen zugewiesene Unterstützungskräfte grundsätzlich u. a. mit dem Auftrag der Präsenzerhöhung im öffentlichen Raum.“
Es zeigt sich: Das Problem hinter dem Gewaltvideo ist vielschichtig. Es gibt kein klares Schwarz und Weiß. Viel wurde jetzt hier genannt, beobachtet und erklärt. Daher eine Zusammenfassung:
Die Gewalttat hat eine Vorgeschichte
Bieblach-Ost ist laut Polizei kein Kriminalitätshotspot
die Gewalt ist „kein rein migrantisches Problem“
die Jugend durchlebt schwere Zeiten
viele suchen Ausweg in radikale Ideologien, besonders Rechtsextremismus und Islamismus
Es ist wichtig, den Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen
Täter müssen Sozialstunden leisten
Bieblach-Osts Probleme liegen in der Geschichte
Vor allem Infrastruktur fehlt
es braucht mehr Begegnungen und Angebote für alle Generationen
Perspektivlosigkeit spielt eine große Rolle
mehr Sichtbarkeit und gemeinsame Aktivitäten gewünscht
Politiker*innen sind gefragt
mehr Kontinuität bei sozialen Projekten notwendig
Bieblach ist eigentlich sehr schön und hat viel Potenzial
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